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Normal - Terror eines Begriffs

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Es soll also wieder vieles „normal“ werden. „Normal“ ins Gasthaus gehen, „normal“ in den Urlaub fahren, sich „normal“ mit Freunden und Freundinnen treffen oder endlich wieder „normal“ zu Sport, Freizeit und Fitness. Auch die häufig beschworene „Rückkehr zur Normalität“ und die wiederkehrenden Prognosen für einen „normalen“ Sommer halten uns in Bann.

Doch es gibt sie nicht, diese eine „Normalität“, aus der alle gemeinsam herausgefallen sind, und in die „wir“ dann wieder alle zurückkehren, wo „wir“ uns dann als große zufriedene Gruppe wahlweise im Restaurant, im gemütlichen Frühstücksraum des Urlaubshotels oder am großen lachenden Familientisch wiedertreffen. Auf dieses „wir“ zielt etwa die Werbung eines österreichischen Skigebiets, das aktuell mit dem Slogan „Zurück zum wir“ um Besucher:innen wirbt.

In diesem „wir“ ist niemand einsam, zu arm für einen Urlaub, obdachlos, oder – etwa als Bezieher von Arbeitslosenunterstützung – nicht dazu berechtigt, das eigene Land zu verlassen oder – etwa als Schutzsuchende – nicht dazu berechtigt, das Land überhaupt zu betreten. In diesem fiktiven „wir“ sind alle hier lebenden wahlberechtigt und leben komfortabel über dem Mindestniveau. Diese Fiktion wird zur Waffe, wenn dominierende Gruppen (mit und ohne Mehrheiten) damit beginnen, ihren komfortablen Alltagszustand und ihre je spezifische Herkunft und Prägung als „normal“ zu definieren und die Möglichkeit besitzen, diese „Normalität“ mit gesellschaftlicher und medialer Durchsetzungskraft in den Vordergrund zu stellen.

Im technischen Sinn ergibt die Bezeichnung „normal“ keinen Sinn, wenn nicht zugleich die zu ihrer Bestimmung notwendige Messlatte, eben die Norm, mitbeschrieben wird. Korrekterweise müsste die Formulierung vom Wunsch einer „Rückkehr zur Normalität“ eines Schiurlaubs folgendermaßen lauten: „Wir wollen zurück zum Alltag einer mehrheitlich weißen Gruppe österreichischer oder deutscher Staatsbürger:innen mit einem überdurchschnittlichen Haushaltseinkommen“. Und wenn jemand davon träumt, endlich wieder „normal“ ins Restaurant gehen zu können, wäre der adäquater formulierte Wunsch, zum eigenen Leben in vorpandemischen Zeiten zurückkehren zu wollen, in dem der Restaurantbesuch eine wichtige Rolle gespielt hat. Im Leben anderer hingegen nicht, da ihnen die Mittel dafür fehlen oder weil sie krank im Bett liegen oder weil ihr Bewegungsradius aus anderen Gründen radikal eingeschränkt ist.

Vor dem folgenden Absatz sei angemerkt, dass sämtliche Versuche, gegenwärtige Einschränkungen mit dem Terror des Nationalsozialismus zu vergleichen, abzulehnen sind. Die nun folgenden Zeilen sind daher nicht von diesem Vergleich motiviert, sondern ausschließlich von der häufigen Verwendung des Begriffs „normal“ in den vielen Beschreibungen des vor kurzer Zeit ausgestrahlten Fernsehfilms „Die Wannseekonferenz“. Es war auffällig, wie oft davon gesprochen wurde, dass es sich bei den Beteiligten um ganz „normale“ Menschen bzw. Bürokraten gehandelt habe. Diese – und man möchte fast glauben freudig-erleichterte – Zuschreibung einer „Normalität“ lässt jedoch eines außer Acht: Alle in dieser Konferenz versammelten waren hochrangige Nationalsozialisten und radikale Antisemiten. Und andere in dieser Zeit waren eben keine Nationalsozialisten und keine Antisemiten, sondern deren unschuldige Opfer. Es gibt zu denken, wie leicht es fällt, eine Gruppe von ausschließlich weißen, antisemitischen Männern im Dienste eines mörderischen Regimes, als „normal“ zu bezeichnen. Das leichtfertig verfügbare Attribut lässt einen Blick in die Tiefenstrukturen einer Gesellschaft zu, in der nicht zuletzt anhand der Biografien der Täter und Täterinnen des Nationalsozialismus die Messlatte für so etwas Fragwürdiges wie gesellschaftliche „Normalität“ entwickelt wurde.

Wir sollten das Wort „normal“ bei der Beschreibung von Lebensformen weitgehend vermeiden. Zu leicht wird es zur Belastung für viele, die den damit verbundenen Vorstellungen nicht entsprechen können oder die sehr gute Gründe dafür haben, ihnen nicht entsprechen zu wollen. Sprechen wir von uns selbst, von unseren je spezifischen Lebensformen, Privilegien und Vorlieben, aber nennen wir sie nicht „normal“, vor allem dann nicht, wenn die Definition als abweichend oder „abnormal“ in unseren Ländern bereits einmal zu Verbrechen führte.

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